Die Geschichten

Zwischen Freiem Fall Und Hölle

Das Kandahar-Rennen in Garmisch-Partenkirchen – eine Abfahrt, ein Mythos und jede Menge müde Beine, die sich auf Bier und Brezn freuen.

„Der freie Fall – ein Gefühl, als würde man einen Liftschacht hinunterfliegen“, beschreibt der kanadische Rennläufer Benjamin Thomsen die mit einem Gefälle von 92 Prozent zweitsteilste Passage des gesamten Skiweltcups. Der „Freie Fall“ ist Teil der neuen Streckenführung der Kandahar-Abfahrt in Garmisch-Partenkirchen. Auch die klassische Variante bot bereits eine nicht minder spektakuläre Passage: die „Hölle“. Was Thomsen zu dieser sagt? „Es ist so schwierig hier und du kämpfst so unglaublich hart, aber wenn du es geschafft hast, war es alles wert.“

Die Kandahar-Abfahrt gilt als eine der schwierigsten Strecken überhaupt und zählt neben den Abfahrten in Kitzbühel und Wengen zu den absoluten Klassikern – nicht zuletzt aufgrund der eingangs genannten Passagen, die dieses Rennen so einzigartig und spektakulär machen. Für jene wilden Kerle, die sich hier mit bis zu 130 Stundenkilometern den Berg hinunterstürzen, ist das Rennen ein Saisonhighlight: „Seit ich das erste Mal hier gefahren bin, liebe ich es, hierher zu kommen“, sagt der Kanadier Eric Guay über jene Piste, auf der er bei der Weltmeisterschaft 2011 mit Gold in der Abfahrt seinen bislang größten Erfolg feiern durfte. Auch von ÖSV-Läufer Romed Baumann kriegt die Kandahar ein Kompliment aus tiefster Rennläuferseele: „Man merkt, diese Abfahrt wurde nicht irgendwo auf dem Reißbrett entworfen. Sie hat alles was eine klassische Abfahrt ausmacht.“

DIE STRECKE

Die Kandahar verläuft im Schatten der zwei mächtigen bayrischen Spitzen – der Zug- und der Alpspitze. Der Start liegt auf 1690 Metern und bietet einen atemberaubenden Blick auf die Ortsteile Garmisch und Partenkirchen. Keine zwei Minuten dauert die Abfahrt – und kann sich doch wie eine Ewigkeit anfühlen. „It’s a non-stop fight - ein Kampf von oben bis unten“, bringt es der US-Amerikaner Steven Nyman auf den Punkt. „Diese Strecke ist technisch höchst anspruchsvoll“, ergänzt Eric Guay, „körperlich wird dir alles abverlangt.“  Vor allem in der Hölle.

Die Hölle und der freie Fall

In der Bibel wird die Hölle als brennend heißes Flammenmeer dargestellt. Die Hölle in Garmisch-Partenkirchen hingegen ist kalt, dunkel und eisig. Einzig die Muskeln in den Beinen der Rennläufer brennen vom Druck den sie im Kampf gegen die betonharte Piste auf die scharf geschliffenen Kanten der Skier bringen müssen. Das bestätigt auch der ehemalige österreichische Rennläufer und heutige TV-Experte Hans Knauß, der als Kamerafahrer immer noch genau weiß, wovon er spricht: „Wenn du aus der Hölle rauskommst, sind deine Oberschenkel sternhagelblau. Und dann kommt erst die rennentscheidende Passage, die sogenannte FIS-Schneise, wo du noch einmal alles rausholen musst.“

Es ist die Energie dieses Hanges, welche die Sportler zu Höchstleistungen treibt. Angst gibt es nicht, aber es herrscht Respekt. „Durch die Hölle zu gehen, bedeutet hier wirklich durch die Hölle zu gehen. Es ist dunkel und man ist unglaublich schnell. Der Boden ist so uneben, dass man einen Schlag nach dem anderen bekommt“, schildert Benjamin Thomsen die Fahrt durch diese Passage. Dass Thomsen nicht übertreibt, bestätigt auch der Österreicher Klaus Kröll: „Man hat null Bodensicht und es ist extrem schwierig überhaupt auf den Skiern zu bleiben.“

Aber auch die Variante über den Freien Fall ist nicht weniger spektakulär – schließlich kommt man ansonsten nur selten in den Genuss völliger Schwerelosigkeit. Doch welche der beiden Varianten ist nun die imposantere? Der Schweizer Beat Feuz bevorzugt den Sprung ins Nichts im Freien Fall: „Es ist halt einfach die Herrenstrecke!“ Der Südtiroler Christof Innerhofer, der bei der WM 2011 hier mit Gold im Super-G, Silber in der Super-Kombination und Bronze in der Abfahrt gleich dreimal Edelmetall geholt hat, bevorzugt die klassische Variante durch die Hölle: „Man hat mehr Geschwindigkeit und es gibt größere Zeitunterschiede, die es letztlich ausmachen.“

DER MYTHOS

Am Ende des Rennens bleibt vor allem eines spürbar: Der Mythos Kandahar liegt überall in der Luft. Dieser Mythos erzählt die Geschichte zweier Skipioniere, jene des Briten Arnold Lunn, Mitbegründer des britischen Skiclubs Kandahar, und Hannes Schneider vom Skiclub Arlberg. Lunn revolutionierte mit seinen modernen Ansätzen das Regelwerk von Abfahrt und Slalom und setzte diese gemeinsam mit Schneider auf der Piste um. Das Ergebnis: Das legendäre Arlberg-Kandahar-Rennen. Eine Rennserie, die ihre Premiere 1928 in St. Anton am Arlberg hatte und ursprünglich an vier weiteren Orten - Mürren, Chamonix, Sestriere und Garmisch-Partenkirchen – ausgetragen wurde. Den Namen hat das Rennen seinen beiden ursprünglichen Veranstaltern zu verdanken: Dem Skiclub Arlberg und dem Skiclub Kandahar. Letzterer ist in der Schweiz beheimatet und trägt den Namen des skibegeisterten Feldmarshalls Frederick Roberts, dem nach seiner Rückkehr aus Afghanistan der Titel „Earl of Kandahar“ verliehen wurde. Neben Garmisch-Partenkirchen ist noch ein zweites Rennen der ursprünglichen Serie, jenes in Chamonix, der Partnerstadt von Garmisch-Partenkirchen, Teil des FIS-Weltcup.

DIE BAYRISCHE GEMÜTLICHKEIT

In einem Punkt sind sich die Abfahrer einig: Garmisch-Partenkirchen ist nicht nur sportlich eine Reise wert, auch die bayrische Küche hat es den Sportlern angetan: „Bei Knödeln kann ich nicht widerstehen“, gesteht Beat Feuz. „Wir werden schon oben im Starthaus bewirtet wie sonst nirgendwo auf der ganzen Weltcuptournee“, schwärmt auch Romed Baumann über die Gastfreundschaft und die perfekte Organisation. Und da müde Beine nach einem harten Rennen ein paar Elektrolyte brauchen, darf es ruhig auch mal „ein gutes bayrisches Bier sein. Als Belohnung werde ich mir heute noch eines reinziehen“, sagt Romed Bauman schmunzelnd und bekommt Unterstützung von Benjamin Thomsen: „Hübsche Mädels in Dirndln, gutes Bier und Brezn – Herz, was willst du mehr?“

FIS Ski Weltcup Garmisch-Partenkirchen

Text: Katharina Krutisch // friendship.is
Fotos: Katharina Krutisch, Reinhard Lang // friendship.is

24. Oktober 2016

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