Die Geschichten

Über Die Alpen In Ein Neues Leben

Statt Unternehmen bei milliardenschweren Fusionen zu beraten, serviert Rudolf Wötzel heute Hausmannskost im Berghaus Gemsli. Und hat als Hüttenwirt eigentlich viel mehr Spaß.

Braungebrannt sitzt Rudolf Wötzel auf der Terrasse des Berghaus Gemsli in Klosters. Er trägt ein lockeres Sommerhemd und trinkt selbst gemachten Eistee. Am Handgelenk trägt er ein Armband mit ein paar Schmuckperlen, das seine kleine Tochter für ihn ausgesucht hat. Wötzel wirkt entspannt, noch ist nicht viel los an diesem Donnerstagvormittag. Vor rund 10 Jahren wäre er um diese Zeit im Maßanzug im Büro oder in einem Meeting gesessen, jetzt wartet er auf die ersten Tagesgäste. 2009 hat er das Gemsli im Schlappiner Tal gekauft. Zuvor war er bei Lehman Brothers für Fusionen und Übernahmen zuständig und wirkte unter anderem beim Verkauf der SWISS an Lufthansa mit. Seine äußerst erfolgreiche Karriere endete in einem selbstgewählten Ausstieg und einer Wanderung durch die Alpen.

Herr Wötzel, Sie haben in einem Haus am Zürichsee gelebt, jetzt sind Sie Hüttenwirt in Klosters. Vermissen Sie Ihr altes Leben? 

Diese klassischen Luxusaspekte eigentlich gar nicht. 

Aber? 

Wenn ich sehe, wie mich ehemalige Kollegen auf der „alten Autobahn“ überholt haben, muss ich mir manchmal kurz bewusst machen: „Hey! Du hast die Ausfahrt freiwillig genommen, jetzt beschwer’ dich nicht, dass die da im Ferrari herumbrettern.“ Und dann fällt mir ein, dass ich jetzt im Space Wagon auf der Landstraße fahre und eigentlich viel mehr Spaß habe. 

Warum schaffen es manche Menschen nicht, im richtigen Moment „Stop!“ zu sagen sondern arbeiten – teilweise leider auch wortwörtlich – bis zum Umfallen?

Die meisten denken, sie merken es dann schon, wenn der Leidensdruck zu groß wird. Meine Erfahrung ist, dass Leidensdruck alleine nicht reicht, um einen solchen Schritt früh genug zu wagen. Leidensdruck ist etwas Negatives, er treibt dich weg von etwas. Man braucht ein Gegenkonzept, eine konkrete Idee, was man stattdessen machen möchte. Bei mir war das eben mein Plan, quer durch die Alpen zu wandern – von Salzburg bis Nizza.

Ein Jahr lang plante Wötzel seine Wanderung. Ganz bewusst nahm er sich jeden Tag 20 Minuten Zeit, um sein Projekt mit dem Codenamen „Hannibal“ voran zu treiben. Die Idee: Für jeden erreichten Gipfel sollen Sponsoren einen bestimmten Betrag spenden, den er zum Schluss verdoppeln würde. Am 22. Mai 2007 brach er in Salzburg auf, fünf Monate später kam er in Nizza an. Rund 22.000 Schweizer Franken sammelte er für ein Projekt zur Integration von geistig behinderten Kindern.

War Ihnen zu Beginn Ihrer Wanderung schon klar, dass Sie nicht in Ihren alten Beruf zurück wollen?

Nein, ursprünglich war es als Auszeit geplant. Da macht man sich natürlich noch Gedanken, wie es weitergehen soll. Nach etwa der Hälfte habe ich gemerkt: Ich will gar nicht mehr zurück. Und in dem Moment wo du dich endgültig verabschiedest von diesen Gedanken, bist du im Kopf plötzlich frei und offen für neue Dinge.

Sie haben im Anschluss ein erfolgreiches Buch über Ihren Ausstieg und die Wanderung geschrieben. Kritiker meinten, mit entsprechenden finanziellen Rücklagen hätte man ja leicht reden.

So sehr ich diesen Gedanken nachvollziehen kann, ist es ein defensives Argument, dass gerne als Vorwand hergenommen wird. Ich behaupte nicht, dass jeder alles machen kann, jeder muss seine eigenen Spielräume ausloten. Und was man in diesem Zusammenhang auch sagen muss: Höhe ist auch Fallhöhe. Je höher deine Standards sind, desto mehr musst du aufgeben.

Abgesehen von den beruflichen Veränderungen und finanziellen Einschnitten – was bedeutet so ein Ausstieg im Hinblick auf Freundschaften und soziale Kontakte?

Meine damalige Beziehung hat es nicht ausgehalten. Und ja, natürlich werden auch Freundschaften durch so einen Bruch gefiltert. Es gab Menschen, von denen ich dachte, sie würden sich sofort von mir lossagen, bei denen aber genau das Gegenteil der Fall war. Zudem lernt man Menschen kennen, mit denen man sonst nie in Kontakt gekommen wäre – auch meine heutige Frau sagt, als Banker hätte ich es bei ihr sehr schwer gehabt. Andere Freunde wiederum hätte ich gerne behalten, musste aber feststellen, dass ich mit meinem neuen Lebensmodell nicht mehr dazu passe und für sie uninteressant geworden bin. Ganz betriebswirtschaftlich gesprochen kann ich sagen: Der Nettoeffekt ist ganz klar positiv! 

Nach seiner Wanderung verlegte Wötzel seinen Hauptwohnsitz nach Klosters. Bestärkt durch seine Erlebnisse auf verschiedensten Hütten erwarb er 2009 das Berghaus Gemsli– mit dem Versprechen es als bewirtete Hütte weiterzuführen. Nach vier Saisonen als klassischer Hüttenwirt bietet er mittlerweile auch Seminare und Workshops an. 

Gibt es bald nur noch Hütten, die von ehemaligen Topmanagern betrieben werden?

Es geht mir nicht um Ausstiegsberatung, im Gegenteil: Es gibt immer wieder welche, die zu mir kommen mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen. Gemeinsam stellen wird dann fest, dass sie eigentlich nur die Rahmenbedingungen ein wenig verändern müssen, um wieder glücklich zu werden in dem, was sie tun. Wichtig ist vor allem zu erkennen, welche Dinge man ändern kann und welche man als gegeben akzeptieren muss. Leider haben wir ja die Tendenz, dass wir erstere oft als gegeben ansehen, obwohl man etwas tun könnte und stattdessen an Dingen rumdoktern, die wir eh nicht ändern können.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel geben?

Ich sage den Menschen oft, sie sollen die zehn verrücktesten Dinge aufschreiben, die sie einmal machen möchten. Die meisten wählen Dinge, die fundamentale Entscheidungen mit sich bringen – denn je größer die Aufgabe, desto leichter ist es, Argumente dagegen zu finden. Gemeinsam entwickeln wir daraus kleine Projekte, die realisierbar sind. 

Die Coachings finden hier am Fuße der eindrucksvollen Silvretta-Gebirgskette statt. Ihre Kunden stammen meist aus einem urbanen Umfeld, welche Reaktionen beobachten Sie, wenn "Stadtmenschen" hierher kommen?

In der Stadt weißt man immer: Das haben Menschen gebaut. Hier ist man plötzlich in einem Umfeld, das nicht von Menschen erschaffen wurde und so mächtig ist. Man schrumpft in seiner Größe und nimmt sich selbst automatisch nicht mehr so wichtig – das führt zu einer enormen Entlastung und setzt auch Energien frei. Im Vergleich zu den Bergen bist du nur ein kleiner Furz. 

Interview: Matthias Köb // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is

12. Oktober 2016

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