Die Geschichten

Den Gipfel Im Namen Tragen

Pietro Picco entspricht dem typischen Bild eines Bergführers: Groß gewachsen, gutaussehend, selbstbewusst, und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Dahinter steht jedoch eine besondere Geschichte. Sie beginnt im italienischen Courmayeur, führt über England nach Südafrika und gipfelt letztlich in der Bedeutung seines Namens.

Zehn Schritte gehen, zehn Sekunden stehen bleiben. Verschnaufen, husten, nach Luft schnappen, dann weitergehen. Er darf nicht zu lange pausieren, die Zeit rennt. Aber die Lunge muss mit frischem Sauerstoff befüllt werden, das schmerzt. Jeder Atemzug fühlt sich wie ein Brennen an, jede einzelne Nervenzelle seines Körpers sagt: „Stopp“. Umdrehen ist für ihn aber keine Option, heute nicht. Er folgt etwas, das ihn weiter nach oben treibt. Der Gipfel ist in greifbarer Nähe, man sieht ihn schon, bloß ein paar Meter sind es noch. Allerdings bedeuten ein paar Meter auf über 8.000 Meter Höhe eine fast unbewältigbare Abfolge von kleinen Schritten – und noch viel mehr Brennen in der Brust. Pietro geht trotzdem weiter. Deswegen ist er hier, genau deshalb hat er vor vielen Jahren sein Leben umgestellt und es fortan den Bergen gewidmet. Wegen Momenten wie diesen, in denen nichts zu sagen, aber viel zu spüren ist.

Pietro Picco ist in Courmayeur geboren, aber auf dem Wasser groß geworden. Auch wenn die Berge omnipräsent waren und der Ozean weit weg, wollte er in jungen Jahren nichts anderes als Segeln: „Ich war immer der Meinung, dass man seiner Leidenschaft folgen sollte.“ Und die hat ihn zunächst nach England verschlagen, um an der Universität von Southhampton Schiffsbau zu studieren. Vier Jahre lang bleibt Pietro der Südküste Englands treu, segelt unzählige Male zur gegenüberliegenden Isle of Wight und nimmt an einer der berühmtesten Segelregatten der Welt teil – dem „Fastnet Race“: 608 Seemeilen, mehrere Tage auf hoher See, keine Nacht mehr als drei Stunden Schlaf. „Das war mit Sicherheit eine der extremsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe“, sagt der heutige Gipfelstürmer. Dabei war damals von Pietros Abenteuern in den Bergen noch keine Rede, alles drehte sich um das Meer und den Wind. Der ihn nach Abschluss des Studiums in südliche Hemisphären trägt, wo er für einige Jahre in Südafrika in der Werft eines Italieners arbeitet. Das Leben folgt einer klaren Stringenz, „hier waren ich und das Meer, dort die Berge und meine Familie“. Im Zuge eines Heimaturlaubs kam es dann zum entscheidenden Wendepunkt: Gemeinsam mit seinem Vater unternimmt Pietro eine einfache Bergtour im Monte-Rosa-Gebirge. „Es war ein unglaublicher Sonnenaufgang am Gipfel, die gesamte Berglandschaft war in ein tiefes Rosarot getaucht “, und was nach klischeehaftem Bergpathos klingt, reichte aus, um Pietros Leben fortan zu verändern. Nach diesem Tag waren „das Segeln, der Job und der Ozean ganz weit weg“, aber die Berge und der junge Pietro waren sich auf einmal ganz nahe. So nahe, dass er die Segel einholte, nach Hause zurückkehrte und kurzerhand beschloss Bergführer zu werden.

Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, „die Ausbildung zum Bergführer hat mehr Zeit in Anspruch genommen als mein gesamtes Studium“. Drei Jahre Ausbildung, drei Jahre Vorbereitung. Schließlich musste Pietro für die Aufnahmeprüfung über 70 Gipfelerfolge vorweisen. Viele davon bestieg er mit seinem Freund und Mentor Arno Clivel, der ihn auch auf der dreitägigen Tour über den Peutérey-Grat begleitete – eine Herausforderung, der sich nur wenige Alpinisten stellen. Mit 4.500 Höhenmetern gilt sie als die längste Gratkletterei der Alpen, die direkt auf das Dach Europas führt: den Gipfel des Mont Blanc. „Nach dieser Aktion hatte ich Blut geleckt und war bereit für mehr“, sagt Pietro, der trotz seiner wilden Aventüren nicht als adrenalingetriebener Draufgänger wahrgenommen werden will. Der 33-jährige Italiener überlegt ganz genau was er tut und achtet in der Tourenplanung auf jedes noch so kleine Detail. Egal ob es der berüchtigte Cerro Torre in Patagonien, ein namenloser Gipfel vor seiner Haustüre oder der 8.167 m hohe Dhaulagiri in Nepal ist – Pietros letztes großes Abenteuer.

Wenn man noch keinen Achttausender bestiegen hat, dann geht man im Prinzip so vor: Zuerst erklimmt man ein paar 6.000 oder 7.000 m hohe Berge um zu sehen, wie der Körper auf die Höhe reagiert. Erst dann plant man sein erstes Achttausender-Erlebnis. Außer man ist Pietro, der vor seinem Gipfelsturm zum Dhaulagiri, nur die Höhenluft auf 5.500 m kannte. „Es war eine Last-Minute-Entscheidung“, sagt Pietro, der sich zum Zeitpunkt der Einladung zwischen einem ausgebuchten Arbeitskalender, den Renovierungsarbeiten am Familienhaus und dem weit entfernten Himalaya entscheiden musste. Nach zehn schlaflosen Nächten bucht er das Ticket, „weil man nicht wissen kann, wann man wieder so eine Chance bekommt“. Und so folgt er abermals seiner Leidenschaft, „in eine völlig surreale, aber unfassbar schöne Bergwelt“. Die ihm einiges abverlangt hat: Trotz ausreichender Akklimatisation musste sich Pietro den Gipfel wahrhaft erkämpfen. Nicht zuletzt, weil er den Dhaulagiri ohne die Verwendung von zusätzlichem Sauerstoff besteigen wollte. „Meine Philosophie vom Bergsteigen ist puristisch“, sagt er und verzichtet auf Zusatzausrüstung, um möglichst rasch an sein Ziel zu kommen. Wobei ihn auf den letzten 80 Höhenmetern des Dhaulagiri wohl die langsamste Schnecke überholt hätte, wie er selber sagt: „Man geht zehn Schritte, bleibt stehen, geht weitere zehn Schritte, bleibt wieder stehen“, bis man dann wirklich oben ist. Und vielleicht wurde Pietro nicht nur von seiner Leidenschaft geleitet, sondern auch von seinem Nachnamen: „Picco“ bedeutet schließlich einfach nur: Gipfel.

Text: Robert Maruna // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is

20. April 2022

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