Die Alpine Arche
Auf halbem Weg zum Gipfel des Mont Blanc treffen Alpinismus, Architektur und Artenschutz auf Isabella Vanacore Falco. Die Hüterin der alpinen Arche über Courmayeur.
In weniger als zwei Minuten ist man oben. Dann öffnen sich die verglasten Schiebetüren der Gondelbahn und man betritt die Mittelstation des „Skyway Monte Bianco“. Eine futuristische Anlage auf über 2.000 m, die nicht nur eine Bar und Boutique beherbergt, sondern auch ein Restaurant und einen eigenen Kinosaal. Und genau hier, auf halbem Weg zum Gipfel des Mont Blanc, liegt sie – die alpine Arche.
Sie ist kein gewaltiges Boot aus Holz und in ihrem Inneren leben keine exotischen Tiere, vielmehr ist sie ein großer Garten, auf dessen kargem Boden jede Menge Pflanzen wachsen. Alpine Pflanzen. Aus den unterschiedlichsten Gebirgsregionen der Welt – von den Anden über den Himalaya bis hin zum Ural. Hier können sie wachsen und gedeihen. Darauf achtet eine Person ganz besonders: Isabella Vanacore Falco. Sie ist die Leiterin des „Saussurea alpine gardens“, dem höchsten botanischen Institut Europas. Und in gewisser Weise ist Isabella für den Garten das, was einst Noah für die Arche war.
„Man schützt Dinge, um sie für die Nachwelt zu bewahren“, sagt Isabella, während wir ihr auf den von Steinen flankierten Pfaden des Gartens folgen. Links und rechts der Wege sind Parzellen angelegt, auf jeder von ihnen wächst eine andere Pflanze. Isabella hält an einem kreisrunden Beet inne, Arnica montana steht auf dem Schild. Aus der Erde ragt eine gelbblühende Gebirgspflanze – schön, aber unauffällig. Sie zählt zur Familie der Korbblütler, ist in den Alpen beheimatet und wurde einst zur Blume des Jahres gewählt, aber viel wichtiger ist: Sie steht unter Naturschutz, „so wie viele andere Pflanzen unseres Gartens auch“. Und genau deshalb ist Isabella hier.
Man könnte meinen, die hohen Gipfel des Mont-Blanc-Massiv oder die grüne Natur im Tal haben Isabella nach Courmayeur geführt. Doch es war die Wissenschaft, die die junge Studentin aus Turin vor über 20 Jahren hierher verschlagen hat. Eine Exkursion zum „Saussurea garden“, ein Forschungsprojekt im Val Ferres und einen Doktortitel in Botanik später beschließt Isabella zu bleiben. „Weil ich nicht will, dass sie verloren gehen“, sagt Isabella, und mit „sie“ meint sie die Pflanzen – ihre Kinder.
„Jedes Mal, wenn im Garten ein neuer Samen eingepflanzt wird und eine junge Pflanze aus der Erde aufkeimt, dann ist das wie die Geburt eines neuen Lebens.“ Für das sich Isabella verantwortlich fühlt. Sie hegt und pflegt ihre über 900 unterschiedlichen Sprösslinge. Nicht selten spielt sie ihnen über die Anlage des Gartens Musik vor. „Klassik. Sie mögen am liebsten Vivaldis Symphonie der vier Jahreszeiten“, und was im ersten Moment nach esoterischem Humbug klingen mag, ist wissenschaftlich erwiesene Realität: Akustische Bespielung der alpinen Pflanzen hat zu rascherem Wachstum und ausgeprägter Blütenbildung geführt. Isabella grinst, weil sie zweifelhafte Blicke gewohnt ist. Nicht jeder Besucher glaubt ihr diese Geschichte, aber dann erzählt sie gerne noch eine andere. Dafür müssen wir nur ein paar Schritte weiter durch den Garten gehen.
Isabella beugt sich zu einer Pflanze herab: Am Fuße ihres Stängels breiten sich elliptisch-geformte, grüne Blätter zu den Seiten hin aus, während weiße Blütenblätter dicht angeordnet nach oben wachsen. „Die hier ist vermutlich Alexander dem Großen zum Verhängnis geworden“, sagt sie und erkennt abermals Zweifel in unseren Augen. Denn was wir nicht wissen ist, dass der Weiße Germer, so der Name der hochgiftigen Pflanze, in der Antike als pflanzliches Brechmittel verwendet worden ist. „Bei zu hoher Dosierung kann allerdings der Tod eintreten“, und laut Doktor Isabella, „lassen die überlieferten Symptome der Krankheit von Alexander dem Großen auf eine Vergiftung durch diese Pflanze schließen.“ Kein eindeutiger Beweis für das rätselhafte Ableben des griechischen Feldherrn, aber für Isabellas lexikonhaftes Wissen um das Leben jeder Pflanze des Gartens. Man braucht ihr nur einen Besuch abstatten.
Nachdem wir unsere Runde durch den Garten beendet und vieles über die Welt der alpinen Pflanzen gelernt haben, wollen wir eine abschließende Frage stellen: Was passiert im Winter, wenn der Schnee kommt? „Dann arbeite ich im Archiv und ziehe neue Samen auf“, sagt sie trocken. Wir hätten uns eine bessere Geschichte erwartet, aber da fügt sie noch hinzu: „Wichtig ist bloß, dass der Garten und all seine Vielfalt hier für die Nachwelt erhalten bleibt“. Und ohne es zu wissen, begründet sie damit nicht nur ihre persönlichen Motive, sondern auch jene, die einst der biblischen Figur Noahs zugeschrieben werden. Er wollte retten, was die apokalyptische Flutwelle sonst mit sich gerissen hätte. Isabella schützt ihre Kinder nicht vor einer endzeitlichen Naturkatastrophe, sondern vor einer viel größeren Bedrohung: Dem Menschen selbst.
Text: Robert Maruna // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is
9. April 2022