Die Geschichten

Mit Dem Kopf In Den Bergen

In Alexander Campedellis Leben dreht sich alles um die Berge, sein gesamtes Dasein hat er um sie aufgebaut. Mit seiner Familie lebt er auf der Monte Bianco-Hütte am Fuße des Mont Blanc.

Man kann mit Alexander Campedelli über vieles sprechen: Seine berufliche Vergangenheit als Ingenieur, seine ehrenamtliche Tätigkeit als Präsident des Bergführerverbandes von Courmayeur oder sein aktuelles Leben als Hüttenwart des Rifugio Monte Bianco. Höflich und bedacht wird er Rede und Antwort stehen. Seine volle Aufmerksamkeit erlangt man aber erst, wenn man das Gespräch in Richtung Berge lenkt. Am besten in nordwestliche Richtung, um genau zu sein, denn dort stehen „seine Berge“: Die Gipfel des Mont-Blanc-Massivs. Wie übergroße Stalagmit-Zapfen ragen sie über dem Val Veny in den Himmel. Viele von ihnen reichen auf über 4.000 m Höhe, eine Grenze, an der den meisten Menschen die Luft wegbleibt. Doch genau dort kommt der 40-jährige Italiener aus Courmayeur ins Schwärmen.

Mont Blanc, Mont Maudit, Dôme de Rochefort, Dent du Géant, Grandes Jorasses und wie sie alle heißen – Alexander kennt sie, er hat sie alle bestiegen. Und alle kann man von hier unten aus bestaunen: von der Terrasse des Rifugio Monte Bianco. Dort treffen wir Alexander Campedelli und seine Frau Francesca. Die beiden Hüttenwarte haben das 1952 erbaute Schutzhaus aus Holz und Stein neu übernommen. Malerisch liegt es am Fuße des Mont Blanc, leicht erhöht im Talboden des Val Veny. Einst war es das Basislager für Alpinisten aus aller Welt, die den Aufstieg zum „weißen Berg“ wagen wollten. Da war von Alexander und Francesca noch keine Rede. Die Monte Bianco-Hütte steht aber noch immer, auch wenn „die Klientel des Rifugio heute eine andere ist“, weiß Alexander. Nur die wenigsten Gäste steigen von hier aus noch zum Mont Blanc hinauf, die meisten Besucher sind Wanderer, Mountainbiker oder Skitourengeher. „Sie suchen Ruhe und Abgeschiedenheit“, die man in der ursprünglichen Wildnis des grünen Tals finden kann. „Ein idyllischer Ort“, sagt Alexander, „ein Platz wie kein anderer“, meint seine Frau Francesca, die gerade die Holztische für den Abend deckt. Die beiden sind seit über ein zehn Jahren ein Paar, er liebt das Klettern, sie das Skifahren. Verbindend ist die Berge und Liebe zur Natur. Deshalb haben sie auch sofort zugesagt, als man ihnen die Bewirtschaftung der Hütte angeboten hatte. „Wir wollten hier unsere Kinder großziehen“, erzählen die zweifachen Eltern. Außerdem war es ein langgehegter Traum der beiden, einmal auf einer Berghütte zu leben. Nicht zuletzt, weil man so den Bergen am allernächsten ist.

Die Piste des Skigebiets verläuft direkt neben der Hütte. „Ein großer Vorteil“, sagt Alexander, „in einem normalen Winter“, ergänzt wiederum seine Frau, und beide lachen. Schließlich konnte keiner vor zwei Jahren damit rechnen, dass die gesamte Welt auf einmal stillstehen würde. Das war kurz nach ihrer Übernahme, „und auf einmal hatten wir unglaublich viel Zeit“, sagt Alexander und blickt instinktiv zu den Bergen hoch. Am liebsten hätte er seine Zeit wohl dort oben verbracht, aber „die Covid-Maßnahmen der Regierung haben uns das verwehrt“. Also hat man sich der Renovierung der Hütte gewidmet. Und dabei besonderes Augenmerk auf die Verwendung natürlicher Materialien gelegt. Kanister, Trinkflaschen, Kunststoffbehälter – alles Plastikhaltige wurde entsorgt und gegen Glas und erneuerbare Stoffe eingetauscht. „Dann haben wir uns über die Lebensmittelversorgung Gedanken gemacht.“ Lokale Händler wurden kontaktiert, sodass sich heute ausschließlich biologische und regionale Produkte auf der Menükarte finden. Selbst das Bier stammt aus einer örtlichen Brauerei: „Es sind kleine Veränderungen, die aber einen großen Impact haben“. Und dafür nimmt sich Alexander Zeit, die ihm früher gefehlt hat.

Bevor die Monte Bianco-Hütte zum Lebensmittelpunkt wurde, hatte Alexander einen Beruf im Tal und einen in den Bergen: Unter der Woche suchte er sein Ingenieursbüro auf, an den Wochenenden führte er Gäste in die Höhe. Darin war er so gut, dass er zum jüngsten Präsidenten des Bergführerverbandes von Courmayeur gewählt wurde. „Eine ehrenvolle Aufgabe“, der er sich gerne stellt, die ihm aber auch viel Zeit abverlangt. Und irgendwann wurde es eng, Beruf, Familie und Freizeit unter einen Hut zu bringen. Also musste er etwas ändern. „Da kam die Monte Bianco-Hütte gerade rechtzeitig“, sagt er und blickt wieder zu den Bergen hoch. Er kann den Blick nicht abwenden, es scheint fast so als ob er in der grauweißen Landschaft nach etwas suchen würde. „Schlechte Angewohnheit“, entschuldigt er sich, er habe die Berge einfach gerne im Blick, „denn man weiß nie, was der Tag so bringt“. Und damit hat der erfahrene Bergführer, der auch langjähriges Mitglied der lokalen Bergrettung ist, vermutlich Recht. Vor wenigen Wochen erst erhielt Alexander mitten in der Nacht einen Anruf. Keine fünf Minuten später landete ein Rettungs-Helikopter vor der Monte Bianco-Hütte. Ein junger Bub war auf dem Gletscher verlorengegangen, „es herrschte akuter Zeitdruck. Denn selbst mit entsprechender Ausrüstung kann ein Mensch in solch eisigen Höhen nicht lange überleben, „noch dazu war es in dieser Nacht extrem kalt“. Aber sternenklar, was die Suche erleichtert: „Zum Glück konnten wir ihn rechtzeitig finden.“ Und pünktlich zum Sonnenaufgang war Alexander wieder zurück im Tal. Dort bereitet er das Frühstück zu und erzählt den Gästen, was passiert war. Überhaupt redet er gern und viel mit den Gästen: Er teilt sein Wissen über Routen, Touren und Bedingungen. Die wenigsten von ihnen wissen, dass sie Tipps vom Präsidenten der lokalen Bergführer bekommen. Das hängt Alexander nicht an die große Glocke. Er ist ein bescheidener Mensch. Und seit er auf der Monte Bianco-Hütte lebt, „auch ein glücklicherer Mensch“.

Auf einem der Holztische liegt ein wuchtiges Fernglas. „Das liegt immer hier“, sagt Alexander, „es ist für die Gäste gedacht“. Aber eigentlich auch für ihn selbst. Denn wenn die Gäste nicht da sind, dann blickt Alexander mit dem Fernglas nach oben. Und holt sich die Berge für einen kurzen Moment ganz nahe heran. Bis der nächste Gast eintrudelt. Dann muss Alexander wieder in der Hütte zurück. Aber mit dem Kopf, mit dem ist er stets in den Bergen.

 

Text: Robert Maruna // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is

22. April 2022

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