Die Geschichten

Zu Schnell Für Ein Ruhiges Leben

Marcella Biondi verliert ungern Zeit. Die ehemalige Skirennläuferin kommt schnell zum Punkt, wenn es um ihr Leben geht. Egal ob es sich um ihre berufliche Aufgabe als Hotelmanagerin des Chalet Val Ferre oder ihre privaten Ambitionen auf der Piste handelt. Ein Gespräch über Ungeduld, Erfolgsdruck und unerwartete Wendungen.

Marcella Biondi ist eine aufgeweckte Frau. Sie denkt schnell, spricht schnell und handelt schnell. Geschwindigkeit ist nicht nur ein Thema, sondern ein Mantra im Leben der 51-jährigen Italienerin. Die vormalige Gesamtsiegerin des Europacups galt in den 1990er-Jahren als große Hoffnung des italienischen Skirennsports, im Weltcup gewann sie jedoch kein einziges Rennen. Mit nur 26 Jahren trat sie vom professionellen Skisport zurück, um zunächst in den Vereinigten Staaten zu studieren und später das Hotel ihrer Mutter in Courmayeur zu übernehmen. Wir treffen sie an einem sonnigen Tag im Spätherbst im Val Ferret, ihrem liebsten Ort im gesamten Aostatal.

Liebe Marcella, auch wenn es heute ungewöhnlich warm ist, klopft der Winter bereits kräftig an die Tür. Wie groß ist die Vorfreude?

Ich habe gerade die Sommersaison beendet und das Hotel abgeschlossen. Jetzt habe ich ein paar Wochen Zeit um durchzuatmen, bevor der Winter richtig losgeht. Ich kann es aber kaum erwarten, endlich wieder die Skier anzuschnallen.

Wann bist du denn das erste Mal auf Skiern gestanden?

Meine Mutter arbeitete als Skilehrerin, soweit ich mich zurück erinnern kann, bin ich Ski gefahren. Wenn man hier in Courmayeur aufwächst, dann hat man keine andere Wahl. Egal in welche Himmelsrichtung man blickt, überall sieht man schneebedeckte Gipfel. Was hätte ich denn sonst tun sollen?

Vielleicht bergsteigen oder klettern?

Keine Sportart hat mich je so fasziniert wie das Skifahren. Beim Klettern oder Bergsteigen läuft alles eher langsam ab. Ich mag es, wenn die Dinge schnell passieren.

Auch abseits der Piste?

Auf jeden Fall! Ich versuche Entscheidungen innerhalb weniger Atemzüge zu treffen. Auch wenn manche sagen, mit dem Alter wird man gelassener, spüre ich noch nichts davon. Es fällt mir sehr schwer, die Dinge langsam anzugehen.

War deine Ungeduld der Grund, warum es im alpinen Skisport nicht ganz geklappt mit den großen Erfolgen?

Ich glaube nicht, dass es primär meine Ungeduld war, die mir im Weltcup einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Es war eher mein Nervenkostüm, dass mich zurückgehalten hat. Im Europacup ist alles blendend gelaufen: Ich konnte zahlreiche Siege verbuchen, war 1992 Gesamtsiegerin in Saalbach-Hinterglemm, und wenige Tage später durfte ich im Weltcup starten. Das war mein größter Wunsch, von Kindheit an. Als ich dann im Starthaus stand und der Moment endlich gekommen war, fühlte ich mich schwach und gehemmt.

Obwohl dein Talent unumstritten war, neben der damaligen Olympiasiegerin Deborah Compagnoni wurden große Erwartungen in dich gesetzt. Warst du dem Druck nicht gewachsen?

Vielleicht, ich kann es immer noch nicht sagen, aber irgendetwas hat mich zurückgehalten. Obwohl ich mehr trainierte als alle anderen, mit unzähligen Mental-Coaches zusammengearbeitet hatte, es wollte einfach nicht sein. Im Training hatte ich Spitzenzeiten, sobald das Startsignal ertönte, konnte ich meine Leistung nicht mehr abrufen. Nach vier erfolglosen Jahren im Weltcup wurde mir dann ein Universitätsstipendium in den USA angeboten, da habe ich sofort zugesagt.

Es musste also eine rasche Veränderung her?

Es war ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Ich hatte keine Weltcupsiege zu verbuchen und war furchtbar frustriert. Die Möglichkeit, ein Studium an der Universität von Lake Tahoe zu absolvieren, war wie ein Lichtblick am Ende des Tunnels. Ich habe keine Sekunde gezögert, meine Rennkarriere beendet und wenige Tage später bin ich schon im Flugzeug gesessen. Rückblickend war es eine der besten Entscheidungen und prägendsten Erfahrungen meines gesamten Lebens.

Man sagt ja, wenn sich eine Tür schließt, dann öffnet sich oft eine andere.

Man muss nur den Mut haben hindurchzugehen und sich auf das Unbekannte einzulassen. Ich war ein junges Mädchen aus einem kleinen Dorf in den Alpen. Was hatte ich schon groß zu verlieren? Meine Erwartungshaltung war dementsprechend gering, ich wollte einfach nur weg und neu anfangen.

Hast du das Skifahren während deines Studiums dann an den Nagel gehängt?

Nein, ganz im Gegenteil. Im Auftrag des Colleges habe ich an unzähligen Skirennen in Nordamerika und Kanada teilgenommen. Ich war Teil des College-Teams, es war unsere Aufgabe die Universität zu promoten. Im Zuge dessen durften wir den gesamten Kontinent bereisen. Es waren vier wundervolle und unglaublich prägende Jahre, die mein Leben völlig verändert haben. Zu gewinnen, das war auf einmal nicht mehr wichtig.

Und nach Abschluss des Studiums hast du nicht überlegt in Amerika zu bleiben?

Oh ja, und wie ich überlegt hatte. Aber ich bin überzeugte Europäerin, als solche fühle ich mich meinen Wurzeln und meiner Familie sehr verbunden. Meine Mutter hatte das Hotel und Restaurant im Val Ferret geführt und hätte ich es nicht übernommen, dann hätte sie es verkaufen müssen. Mit Sicherheit war es keine einfache Entscheidung, aber eine, die ich nie bereut habe.

Das Hotel liegt ja auch wirklich sehr malerisch hier am Ende des Tals. Du hast anfangs erwähnt, dass du gerade die Sommersaison beendet hast. Sind das Hotel und Restaurant im Winter auch geöffnet?

Das Val Ferret ist ein dünn besiedeltes und sehr ursprüngliches Tal, die Straße endet hier. Hinter meinem Hotel führt der Fernwanderweg „Tour du Mont-Blanc“ über den 2.500m hohen Col Ferret-Pass hinab ins Schweizer Wallis – die einzige Verbindung in dieser Richtung. Das gesamte Tal ist den Winter über gesperrt, um diesen einmaligen Naturraum zu schützen. Deshalb werden Hotel und Restaurant nur in den Sommermonaten bewirtschaftet.

Und was treibst du dann das restliche Jahr über?

Im Winter arbeite ich als Coach für den Skiclub Courmayeur.

Das kam jetzt wenig überraschend.

Das Training mit den Kids macht mir unheimlich viel Spaß und außerdem würde ich sonst nur von Juni bis September arbeiten, selbst als Italienerin hätte ich da ein schlechtes Gewissen (lacht).

Und was rätst du den Kindern? Wie schafft man es ganz nach oben?

Indem man liebt, was man tut und bereit ist, alles dafür zu geben.

Das tun viele Sportler, trotzdem wird nicht jeder Weltmeister…

Ein wenig Glück bedarf es schon, ohne dem wird es wohl nicht klappen.

Bist du glücklich mit dem Leben, das du führst?

Sehr sogar! Ich würde nichts davon ändern wollen.

Text: Robert Maruna // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is

20. April 2022

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