Die Geschichten

Die Architektin Des Holzes

Ivette Clavel, 44, ist keine gewöhnliche Architektin: Sie arbeitet ausschließlich mit Holz und nicht mit Beton. Deshalb zeichnet sie keine Gebäudepläne, sondern entwirft Möbelstücke. Warum sie lieber auf kleinem Raum arbeitet und wie man die Träume der Kunden richtig deutet, erklärt sie im Gespräch.

Wir treffen Ivette Clavel in ihrem Studio in Courmayeur. Es riecht nach frischem Holz, gelbe Sägespäne liegen über den Boden verteilt, eine Kreissäge kreischt im Hintergrund. Hier werden Ideen nicht nur geplant und entworfen, sondern auch gleich in die Tat umgesetzt. Ivette ist eine Architektin, die sowohl gerne mit ihrem Kopf, als auch mit ihren Händen arbeitet. Leichtfüßig bewegt sie sich zwischen den schweren Maschinen der Werkstätte und erklärt detailreich die Überlegungen ihrer Arbeit. Sie trägt bunte Ringelsocken, einen grauen Wollpullover und um den Hals baumelt eine rote Kette an der ein weißer Stein hängt. Er stammt vom Mont Blanc. Jenem Berg, der sowohl die Geschichte ihrer Familie als auch ihre eigene entschieden geprägt hat.

Liebe Ivette, normalerweise werden in einem Architekturstudio Pläne gezeichnet und Modelle entworfen. Bei dir wird gehobelt, gesägt und gefräst. Sind wir nun einer Tischlerei oder einem Architekturbüro gelandet? 

Im Moment steht ihr in unserer Tischlereiwerkstatt, wo wir Möbelstücke und Interieur anfertigen. Das Design- und Planungsbüro befindet sich im Stockwerk über uns. Wir sind kein Architekturbüro im herkömmlichen Sinne.

Ihr entwerft also keine Gebäude, sondern habt euch auf die Produktion von Holzmöbeln spezialisiert?

Wir stellen maßgefertige Möbel und Interieur her. Unsere Arbeiten sind exklusiv, wir bieten ausschließlich Einzelanfertigen an. Mein Vater war Tischler und Bergführer, er hat diese Firma vor vielen Jahren gegründet. Damals war es eine kleine Tischlerei: eine Kreissäge, zwei Mitarbeiter und ein paar Werkbänke. Heute arbeiten hier über 20 Menschen und doppelt so viele Maschinen.

Und du hast den Betrieb nach deinem Studium übernommen?

Gemeinsam mit meinem Bruder, auch er ist Bergführer und Tischler. Ich habe in Mailand studiert und wollte eigentlich zunächst im Ausland arbeiten. Doch dann erhielt ich einen Anruf meines Vaters, ob ich für ein paar Monate im Geschäft aushelfen könnte. Das muss jetzt 18 Jahre her sein…

Und du bist noch immer hier.

Und möchte mit keinem anderen Ort der Welt tauschen – ich fühl mich Courmayeur sehr verbunden. Meine Familie lebt seit vielen Generationen hier im Aostatal, sie haben alle in den Bergen und mit Holz gearbeitet. Üblicherweise entwerfen Architekten Wohnhäuser oder Gebäude, sie arbeiten also vorrangig mit Beton. Ich habe mich dazu entschlossen, die Arbeit meiner Familie fortzuführen, ich liebe Holz genauso wie sie. Ich bin eine Architektin des Holzes.

Und in deiner Arbeit geht es dir mehr um das Innenleben, als um die äußere Hülle?

Ich kreiere etwas in meinem Kopf, das es noch nicht gibt. Es soll schön sein und sich harmonisch in seine räumliche Umgebung einfügen. Zusätzlich soll dieses Etwas den Vorstellungen und Erwartungen meiner Kundinnen und Kunden entsprechen. Dafür muss man wissen, wer diese Menschen sind und wie sie leben. Erst dann entsteht dieser Zauber, dass man mit seinem Produkt genau das erschafft, wovon die Kunden vielleicht schon lange träumen.

Du bist also die Architektin des Holzes, die auch Träume deutet?

Sofern mir meine Kunden von ihrem Träumen erzählen wollen, ja. Aber es geht nicht nur darum, die Ästhetik in ihren Träumen zu erkennen, sondern auch die Funktionalität im Design zu integrieren: Meine Kunden leben nicht in riesigen Penthäusern oder prunkvollen Villen, ihre Häuser sind klein und stilvoll. Insofern hilft die schönste Küche wenig, wenn der Raum nicht besteht, um darin zu kochen.

Das wäre dann ein geplatzter Traum.

Was bis jetzt noch nicht passiert ist. Allerdings ist es nicht immer einfach das zu finden, wonach andere suchen. Wenn man viel Raum zur Verfügung hat, dann ist die Ausgangssituation leichter. Auf wenig Raum zu arbeiten ist wiederum viel spannender.

Bist du deshalb auch auf die Idee mit dem Ziegel aus Holz gekommen?

Die Idee hatte ich vor über zwei Jahren: Ich wollte etwas Neues machen, etwas in dem ich meine Kreativität ausleben kann. Dann habe ich einem Freund davon erzählt, der Ingenieur ist und Häuser errichtet. Er war sofort begeistert, und dieser Ziegel aus Holz ist nun die Fusion unserer ersten Arbeit: Er verbindet das Äußere mit dem Inneren. Insofern ist er symbolisch zu verstehen. Das Projekt trägt den Namen: „Le Bois du Mont Blanc“. (Anm. Red.: Das Holz des Mont Blanc)

Und ihr plant bestimmt schon weitere Projekte?

Wir haben einiges angedacht, aber es ist noch zu wenig spruchreif, um darüber zu reden. Die „Rosonne“, ein symmetrisches Element in Form einer Rose, die im Aostatal oft verwendet wird, soll dabei jedenfalls eine tragende Rolle spielen.

Und welche dekorative Rolle spielt die rote Kette, die du um deinen Hals trägst?

Diese Kette hat mir mein Mann geschenkt. Auch er ist Bergführer, aber nicht von hier, er stammt aus den Vereinigten Staaten. Wir haben uns beim Skifahren in Chamonix kennengelernt und der Stein an der Kette stammt aus dem Inneren des Gletschers. Aus einem ganz speziellen Bereich, wo wir unsere erste gemeinsame Abfahrt gemacht haben. Dieser Stein steht für unsere Liebe und wofür wir beide leben.

Text: Robert Maruna // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is

20. April 2022

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