Die Geschichten

Der Hüter Des Waldes

Maurizio Fonte hatte keine andere Wahl: Die Natur hat ihn auserwählt. Seitdem sind die Wälder von Courmayeur sein Arbeitsplatz, die Wildtiere seine Klienten. Für ihren Schutz und Erhalt ist dem Wildhüter keine Stunde Arbeit zu viel.

Man muss ganz vorsichtig sein. „Vor allem frühmorgens, da sind viele von ihnen aktiv“, sagt Maurizio. Wir versuchen so leise wie möglich zu sein, während wir durch das Dickicht schleichen. Sachte steigen wir über herabgefallene Äste, umrunden raschelnde Laubhügel und halten blitzartig inne, sobald wir ein fremdes Geräusch vernehmen. Wir sind auf der Pirsch, nicht auf der Jagd. Wir wollen beobachten, nicht erlegen. Denn das ist die Aufgabe eines Wildhüters, wie Maurizio Fonte einer ist. Und wenn man behutsam seinen Fußspuren folgt, dann wird man die Natur durch seine Augen sehen. Denn der 65-jährige Italiener hat soviel Zeit in den Wäldern von Courmayeur verbracht, dass er irgendwann mit ihnen eins geworden ist.

Maurizio ruht in sich, wie ein jahrhundertealter Baum. Sein freundlicher Blick und sein warmes Lächeln zeugen von Sanftmütigkeit. Seine großen Hände und die stämmige Statur sagen, dass er Bäume versetzen könnte. Hin und wieder muss er in seinem Beruf auch richtig anpacken, die meiste Zeit aber ist er auf leisen Sohlen unterwegs. „Im Grunde ist es wie ein Versteckspiel“, erklärt Maurizio. Er versteckt sich vor den Tieren, weil er sie beobachten möchte, und die Tiere verstecken sich vor Maurizio, da sie um keinen Preis gesehen werden wollen. Was die Tiere aber nicht wissen können: Maurizio ist ein Meister im Verstecken. Dafür benötigt er nicht mal Camouflage, denn wer den Wald kennt, „der taucht in seiner Umgebung einfach ab“. Nicht mal die schreckhaften Gämsen oder scheuen Füchse entdecken ihn. Und das ist gut so, schließlich ist Maurizio kein Jäger, sondern er ist der Aufseher aller Jäger. Er sammelt keine Trophäen für zuhause, sondern Erlebnisse für die Ewigkeit. Dafür muss er raus in den Wald und manchmal auch rauf in die Berge, denn „nur wenn man ein Tier wirklich sieht“, kann man eine stichhaltige Aussage über sein Lebensverhalten und seinen Gesundheitszustand treffen. Und Maurizio weiß, wovon er spricht, schließlich ist er seit über 40 Jahren als Wildhüter tätig. Gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen zeichnet er sich für den ein Schutz der Wildtiere und Erhalt der Naturlandschaft von Courmayeur verantwortlich.  Rund 7.000 Hektar umfasst sein Arbeitsplatz, der sich vom östlichen Taleingang des Val Ferret bis zum westlichen Talende des Val Veny erstreckt. Und niemals ist er müde geworden morgens im „Büro“ zu erscheinen, schließlich „habe ich den besten Job der Welt“.

Maurizio ist sein eigener Herr. Es gibt keine Arbeitszeiten, nach denen er sich richten muss, „Wildtiere halten sich ja auch nicht an Parteienverkehrszeiten“. Was nicht heißt, dass er arbeitet, wann immer er will, sein Arbeitsrhythmus orientiert sich an jenem der Tierwelt. „Sie essen, schlafen und bewegen sich, wenn die Natur es ihnen sagt.“ Insofern kann es schon passieren, dass Maurizio von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang draußen unterwegs ist. Manchmal hält er sogar bis weit in die Nacht hinein die Stellung, „weil manche Tiere eben nacht- und nicht tagaktiv sind“. Gerade in den warmen Sommermonaten, wenn viele Touristen im Tal auf dem Weg sind, „dann ziehen sich die Tiere tief in den Wald zurück“. Für Maurizio bedeutet das viele Nachtschichten im Unterholz. Was ihn nicht weiter stört, aber wie lässt sich so ein Beruf mit einer Familie und Beziehung vereinbaren? „Gar nicht“, sagt Maurizio scherzhaft, „es braucht einfach viel für Verständnis“. Das ihm seine Frau schenkt, denn sie wusste von Anfang an, dass Maurizios Berufswahl nicht auf Reichtum abzielt. Viel mehr folgt er seiner inneren Stimme, oder besser gesagt: dem Ruf der Natur. Der schon früh nach ihm verlangt hat. „Da war ein Erlebnis in meiner Kindheit“, beginnt er in ruhigem Tenor zu erzählen, und es ist als ob der Wald selbst zu einem sprechen würde.

Als Maurizio sechs Jahre alt war, kam er vom Schulweg ab. Auf halber Strecke beschloss er kurzerhand in den Wald abzubiegen und nicht weiter dem Pfad ins Dorf zu folgen. „Irgendetwas hat mich angezogen“, und dem konnte er sich nicht entziehen. So verbrachte er den halben Tag im Unterholz, verstecke sich in einem hohlen Baumstamm und wurde Zeuge einer Geburt: Eine Gamsmutter brachte ihr Junges zur Welt. Ein intimes Erlebnis, dass sein Leben nachhaltig verändern sollte. Fortan zweigte er immer wieder vom Weg ab, sehr zum Unmut seiner Lehrer und Eltern. „Ich hatte keine andere Wahl“, sagt er heute dazu, der Wald wurde zu seinem Klassenzimmer, die Natur zu seinem Lehrmeister. „Das normale Leben in der Zivilisation verwirrte mich“, aber im Schutz des Waldes fand er Klarheit. Selbst später als Teenager zog er einsame Wochenenden in der Natur unter freiem Sternenhimmel den neonbeleuchteten Räumlichkeiten lokaler Diskotheken vor. „Ich glaube, manche haben gedacht, dass mit mir irgendwas nicht stimmt“, in Wirklichkeit hat Maurizio einfach sehr früh gefunden, wonach andere Menschen ein Leben lang suche: Erfüllung. Und das spürt man, wenn man dem Hüter des Waldes gegenübersitzt. Bleibt nur zu hoffen, dass er den Tieren des Waldes noch lange erhalten bleibt. „Warum sollte ich in Pension gehen?“, sagt er, „ich würde so oder so dasselbe machen“. Nämlich in den Wald gehen, zu seinem eigentlichen Arbeitgeber. Mit ihm hat er einen Vertrag auf Lebenszeit geschlossen, wofür er sein Leben lang dankbar ist.

Text: Robert Maruna // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is

20. April 2022

Lesen Sie die Geschichten von