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Die Geschichten

Spuren

„Darf ich vorstellen, das ist mein Büro“, sagt Skiguide Markus Dagn gerne zu seinen Gästen, wenn sie am Gipfel eines schneebedeckten Berges stehen.

„Darf ich vorstellen, das ist mein Büro,“ sagt Markus „Mäx“ Dagn gerne zu seinen Gästen, wenn sie am Gipfel eines schneebedeckten Berges stehen um gleich den unberührten Hang  im Pulverschnee abzufahren. Der Skiguide lebt die Berge mit jedem Atemzug  –  vor allem in seiner Heimat Kitzbühel, aber auch in der Türkei, Chile oder Kalifornien und wohin es ihn und seine Kunden sonst noch verschlägt. Dabei hinterlässt er seine Spuren nicht nur im Schnee.   

In den 1970er Jahren unternahm Liebesforscher Arthur Aron ein Experiment. Beteiligt waren: eine zwischen zwei Klippen verlaufende wacklige Hängebrücke, eine solide Holzbrücke, zwei hübsche Frauen und 34 Männer. 18 Männer wurden über die schwankende Brücke geschickt, die restlichen 16 über die andere, sichere Brücke. In der Brückenmitte wartete jeweils eine hübsche Frau mit ein paar Interviewfragen und einem Kärtchen mit ihrer Telefonnummer –  falls noch Fragen aufkommen sollten. Vor allem die Männer der Hängebrücken-Gruppe hatten noch welche: Die Hälfte rief nach der wackligen Befragung an. Bei der Holzbrücken-Gruppe hingegen waren es nur zwei, die sich telefonisch meldeten. Arons Fazit: Wenn man sich verliebt, reagiert der Körper mit ähnlichen Symptomen wie wenn man sich in einer Gefahrensituation befindet: Herzklopfen, Nervosität, flauer Magen als Auswirkungen der erhöhten Ausschüttung von Adrenalin, Cortisol & Co. Es mag vorkommen, dass man das eine (Angst) mit dem anderen (Verliebtheit) verwechselt und versehentlich das Gegenüber für die Symptome verantwortlich macht. Vielleicht ein Erklärungsansatz dafür, dass es oft der Skilehrer ist, in den sich Skischülerinnen verlieben.

Freiheit, Sucht und Kindsein-Können

Ob das bei Skiguide Markus Dagn auch der Fall ist, sei mal dahingestellt. Angeblich gehe es den Gästen weniger um Adrenalin und Nervenkitzel als vielmehr darum, eine gute Zeit in der Natur zu haben, die Freiheit zu spüren, die so präsent ist, wenn man unberührte Hänge im Gelände abfährt. „Im Powder hast du dieses Feeling von fliegen, du schwimmst so dahin, findest in den Rhythmus. Das kann süchtig machen –  auch meine Gäste empfinden das so, sonst würden sie mich nicht so oft buchen“, so Markus Dagn, der Anglizismen ganz natürlich in seiner Alltagssprache verwendet, ein Hinweis auf das internationale Publikum, das es so liebt, mit ihm freeriden zu gehen, und ein Relikt aus seiner Zeit in Australien und Sun Valley, Idaho.

80% seiner Kunden seien Stammkunden. Ihm sei es ein Anliegen, ihnen einen schönen Tag zu bereiten, wonach auch immer sie suchen mögen: Action, Naturerlebnisse, den perfekten Schwung, gemütliche Pausen auf der Hütte, Erholung und Ruhe – wie die zwei Ärztinnen, mit denen Markus an diesem Tag unterwegs war – oder alles zusammen. Was er selber so an seinem Job schätze, sei die Möglichkeit, wieder Kind sein zu können, „herumzublödeln“  wie er sagt, wie erst vor kurzem, als er mit einem Kunden den Ararat, mit 5137 Metern der höchste Berg der Türkei, bestieg: „Es war saukalt, der Wind hat wie wahnsinnig geblasen. Wir haben gemeinsam im Zelt übernachtet. Auf meinem Handy hatte ich zwei Filme: Mission Impossible und Catwoman. Nach dem Essen haben wir gesagt: So, wir gehen jetzt fernschauen. Die anderen haben uns zwar ausgelacht, aber wir sind dann ins Zelt, haben uns hingelegt wie zwei kleine Buben –  wir hatten auch die gleichen Schlafsäcke –  und uns die Filme angesehen.“ Das gemeinsame Kind-sein-Können verbinde eben.

Auf dem Berg, ist man da gleicher?

Aber es gibt auch noch ganz andere Situationen, bei denen sehr wohl Adrenalin mitspielt, wie zum Beispiel auf der Expedition auf den Ojos del Salado in den tiefsten Anden von Chile, mit 6893 Metern der höchste Vulkan der Welt: „In der ersten Nacht über 4000 Höhenmeter habe ich wegen der Höhenkrankheit keine Minute geschlafen. Es ist mir einfach nur schlecht gegangen, ich hatte einen Ruhepuls von 140 und als er wieder runter gegangen ist, hatte ich das Gefühl, gleich sterben zu müssen, es war so was wie eine Depression  –  ein typisches Anzeichen für die Krankheit. Die anderen sind raufgegangen auf den Berg, aber ich bin nicht mitgekommen.“ Markus’ Kunde kam zwar etwas weiter, aber auch er musste auf den Gipfelmoment verzichten. Manchmal lässt sich die Natur nicht bezwingen –  auch solche Erfahrungen gehören dazu. Beim Erzählen erlebt Markus das was passiert ist, wohl in einer anderen Form wieder. So wie seine Gäste von den Erlebnissen zehren, wenn sie wieder im Büro sind und eine E-mail von ihrem Skiguide im Posteingang haben, mit Bildern von den Highlights ihrer Trips. Zu den Gästen zählen Business-Leute, die 5.000 Mitarbeiter unter sich haben, in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeiten, Menschen mit sehr viel Verantwortung und solche mit sehr viel Geld, die Markus als ihren „Champagne God“ bezeichnen und ihn nach einem gelungenen Tag auf ein paar Gläschen einladen um die besten Runs zu feiern. „Ich habe viele interessante Leute kennen gelernt, die mir von sich aus ihre Geschichte erzählt haben, die nie darüber geredet haben, wie viel Geld sie haben. Diese Erlebnisse verbinden. Ich bin zum Beispiel der Godfather des dritten Kindes eines Kunden“, erzählt Markus. Auf dem Berg gibt es keine Hierarchien, man begegnet sich auf Augenhöhe. Vielleicht trägt auch das zu der Magie bei die entsteht, wenn man zusammen unterwegs ist und Dinge erlebt, an die man sich noch lange Zeit erinnern wird.

Daheim ist daheim. 

Unterwegs, das war Markus Dagn sehr viel. Vielleicht ist er deshalb wieder nach Kitzbühel zurückgekehrt anstatt das neuerliche Job-Angebot in den USA anzunehmen: „Daheim ist daheim. Ich habe da alles, warum sollte ich weggehen? Ich kann machen was mir Spaß macht, ich habe hier meine Freunde, meine Mama, den Vater, meine Schwester...“ Mit seinem Kollegen und Freund Joe Astner habe er mehrmals beim Powder Europacup und Synchroskiweltcup mitgemacht, 2009 holten sie den Weltcupsieg. Auch im Sommer gebe es genug zu tun, „ich bin viel im Wasser, mache Canyoning und Rafting, aber auch Mountainbike-Touren und Bergwanderungen.“ Dass einer, der schon so viele Höhen erlebt hat, ein wenig Beständigkeit braucht, verwundert nicht. Dass einer, der schon so viele Höhen erlebt hat, sich der Tiefen bewusst sein muss – auch das ergibt Sinn: „Jeder hat seine Tiefen, jeder hat was mitgemacht, und wenn du nicht aufstehst und sagst: ‚Es geht weiter’, was ist dann? Man muss nach vorne schauen, denn was gewesen ist, kann ich nicht mehr ändern. Das Leben kann so schnell vorbei sein. Man muss sein Leben leben, schauen, dass man zufrieden ist, dass man die Zeit nutzt, die man hat,“ fasst Markus Dagn seine Lebensphilosophie zusammen. Er ist ein Macher, einer, der immer weiter will, der aber auch weiß, wo seine Grenzen liegen.

In den 1970er Jahren führte Arthur Aron sein Brückenexperiment durch. In den 1970er Jahren wurde auch Markus Dagn geboren –  an dem Ort, an dem er heute wieder lebt, arbeitet und im Schnee und in den Erinnerungen seiner Gäste Spuren hinterlässt und auf seinen Touren, Trips, Expeditionen und Ausflügen Brücken baut, zu den unterschiedlichsten Menschen, die gleichgesinnter nicht sein können. Denn die Begegnungen auf dem Berg, in der Natur, sind fast noch besser als sich zu verlieben: Die Beziehungen, die dabei entstehen, halten oft ein Leben lang. 

Text: Martha Miklin // friendship.is
Fotos: Ian Ehm // friendship.is

22. April 2016

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