Die Geschichten

Der Sommer Der Skulpturen

Kettensägen, Baumstämme und Sichtschutz: Wo Kunst entsteht, da fallen Späne. Beim Davoser Bildhauersymposium kann man eine Woche lang dabei zusehen. 

Neli Hristova, Bildhauerin aus Bulgarien, steht in etwa zwei Meter Entfernung vor ihrer werdenden Holzskulptur und betrachtet sie. Sie trägt eine armeegrüne Latzhose, macht, eine dünne Zigarette rauchend, einen kleinen Schritt nach vorn, nimmt mit Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand Augenmaß und geht wieder zwei Schritte zurück. Sie verschränkt die Arme, zieht an der Zigarette, geht vor, zurück, nach links, und ist dabei so in Gedanken versunken, dass sie beinahe über den Helm mit Sichtschutz stolpert, den sie fünf Minuten zuvor noch am Kopf hatte. Er schützt sie vor dem Holzstaub, der entsteht, wenn sie mit ihrer beeindruckenden Kettensäge aus dem knapp drei Meter hohen Baumstamm aus Schweizer Lärchenholz ihre Skulptur brutal zum Leben erweckt. 

Warum macht ihr das?  

Neli ist eine von drei Bildhauerinnen, die neben zehn männlichen Kollegen an diesem dritten Tag des Open Air-Bildhauersymposiums an der anstrengenden Umsetzung der Idee arbeiten, die sie hierher gebracht hat. Zum elften Mal findet das internationale Event auf der frei zugänglichen Wiese beim Seehofseeli in Davos-Dorf statt. Das Konzept ist immer dasselbe: Es gibt ein Thema, zu dem sich BildhauerInnen aus aller Welt mit ihren Ideen bewerben. Anhand welcher Kriterien die Fachjury die Einsendungen bewertet, erklärt Valérie Favre Accola, die das Symposium gemeinsam mit dem Davoser Bildhauer Andreas Hofer und vielen anderen Helfenden veranstaltet: „Ist die Idee innerhalb einer Woche umsetzbar? Wie sehr nimmt sie auf das Thema Bezug? Und wie innovativ ist sie?“ Dieses Jahr bewarben sich ungefähr 70 KünstlerInnen zum Thema, das ein Zitat des irischen Literaturnobelpreisträgers George Bernard Shaw ist: „Ihr aber seht und sagt: Warum? Aber ich träume und sage: Warum nicht? Denn nicht, was ich habe, sondern was ich schaffe ist mein Reich.“ Es bezieht sich auch ein bisschen auf die eigene Situation, so Co-Veranstalterin Valérie Favre Accola: „Wir werden immer gefragt: Warum macht ihr das? Warum steckt ihr so viel Leidenschaft in eine Veranstaltung, die so wenig einbringt und so viel Arbeit bedeutet? Das Zitat beantwortet es sehr gut. Es geht nicht um Materielles – jeder Künstler erschafft mit seinem Werk ein eigenes Reich.“  

Und diese Reiche können unterschiedlicher nicht sein. Kein Wunder, lassen die Themen – oft sind es Zitate von Schriftstellern oder Philosophen, einmal war es eine Zwölftonmusik, die den Regen beschreiben wollte – den 13 KünstlerInnen, die alle ganz unterschiedliche kulturelle und persönliche Hintergründe haben, ja auch jede Menge Interpretationsspielraum. 

Freiluft-Xing für KünstlerInnen

Auf dem Schild vor Xavier Escalas temporärem Freiluft-Atelierplatz können die BesucherInnen nachlesen, warum sich zwei große rote Schlangen um seine Skulptur wickeln werden, wenn sie fertig ist. Der spanische Künstler will damit die Dualität inszenieren, die mit der Fähigkeit des menschlichen Geistes einhergeht, sich Dinge vorzustellen und umzusetzen. Schönes und Gutes könne dabei entstehen, aber nicht nur: Auch die Atombombe sei Frucht dieser Fähigkeit gewesen, so der Bildhauer, der in der Nähe von Barcelona zu Hause ist. Die Schlangen symbolisieren diese Dualität. Was Xavier Escala am Symposium schätzt? „Die frische Luft, die Natur, die Berge und die gute Organisation der Schweizer. Aber auch die Möglichkeit, mich mit anderen auszutauschen und von ihnen zu lernen.“ 

Der Gedanke des Networking steht seit den Anfängen im Vordergrund: „Es gibt keine Jurierung der Skulpturen, wir verteilen das Preisgeld auf alle Künstler. Dadurch entsteht eine sehr gute Atmosphäre: Sie helfen einander, tauschen sich über Techniken aus und das wiederum inspiriert zu neuen Werkreihen. Ich habe zum Beispiel beobachtet, wie ein Künstler so das Flämmen neu entdeckt hat – und in den nächsten Jahren hat er alle seine Skulpturen geflämmt. Das war für mich die größte Belohnung, weil man sieht, dass der Austausch wirkt“, so die Co-Organisatorin. 

143 Skulpturen sind seit 2004 entstanden, viele wurden teuer verkauft – eine brachte sogar 60.000 Euro ein. Die KünstlerInnen schätzen das Ambiente und die Tatsache, dass es tatsächlich um sie geht und ihre Kunst nicht nur Rahmenprogramm ist. Sie wohnen in teuren Hotels, wenn ihnen eine Schraube fehlt, wird sie besorgt, zu Treffen und Veranstaltungen außerhalb des Ateliers sind sie herzlich eingeladen, aber nicht verpflichtet. Das Davoser Bildhauersymposium genießt international einen besonders guten Ruf – auch aufgrund des Standorts in den Bergen. „Die Alpen sind inspirierend, auch von den Farben her. Und wir sind ja traditionell Gastgeber und möchten diese Rolle nun auch für die Künstler einnehmen“, so Valérie Favre Accola, die dafür verantwortlich ist, dass sich Davos so immer mehr als Treffpunkt für Kunstliebende etabliert. „Viele kommen als Bildhauer und gehen als Freunde.“ freut sie sich. 

Kunst in Echtzeit 

Qian Sihua feilt an dem Kinderkopf, den er aus dem Davoser Lärchenholz-Baumstamm geholt hat. Noch ist es „nur“ der Kopf eines Jungen, einige Stunden später sollte die Skulptur schon eine Metallblase im Mund haben – so wie es die Skizze vor seinem Platz zeigt. In der Blase stecke das Qi, die Lebensenergie. Damit die Blase ihre schöne Form bewahren kann, darf weder zu viel noch zu wenig Qi enthalten sein – Qian Sihuas Metapher für die Wichtigkeit, in Balance zu bleiben. Dem Lärchenholz begegnet der chinesische Künstler, der schon als kleiner Junge mit der Bildhauerei begonnen hat, mit besonderem Respekt: „Ich bemühe mich, die Schönheit dieses alten Holzes zu bewahren, auch wenn ich dadurch vielleicht meine Idee etwas anpassen muss.“ 

Nicht immer ist eine Theorie praktisch umsetzbar, aber genau das mache es ja so spannend, so Valérie Favre Accola. Im Gegensatz zu einem Museum oder einer Ausstellung könnten die BesucherInnen – vom Mountainbiker in funktionalem Neon-Outfit über leger gekleidete Großeltern mit Kleinkindern an der Hand bis zu TouristInnen von hier und da – auch in Echtzeit miterleben, wie Kunst entsteht. Sie könnten Tag für Tag die Umsetzung von Ideen mitverfolgen, sie würden sehen, wie viel harte, körperliche Arbeit Kunst bedeutet, vielleicht würden sie feststellen, dass sie die gleichen Motorsägen oder andere Werkzeuge zu Hause hätten, mit denen die BildhauerInnen hier arbeiten würden. „Über diese Gemeinsamkeiten entsteht ein ganz anderes Kunstverständnis, und es ist schön, das zu beobachten“, so die Co-Organisatorin, der man richtig die Freude ansieht, mit der sie bei der Sache ist. 

Dass man dank seiner Träume fliegen kann, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren, will Neli Hristova übrigens mit ihrer Skulptur zeigen. Wenn man Valérie Favre Accola dabei beobachtet, wie sie das pulsierende Gelände mit den 13 KünstlerInnen überblickt, könnte man meinen, dass sie sich gut mit dieser Idee identifizieren kann.

Text: Martha Miklin // friendship.is
Fotos: Ian Em // friendship.is

24. Oktober 2016

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